Vom Vorzeigemodell zum unberechenbaren Sorgenkind…

Seit Jahrzehnten steht die Türkei vor den Toren der EU und ersucht um Einlass. Mit dem Erstarken der Wirtschaft, ihrer Modernisierung und Herausbildung neuer Eliten hat die Türkei ein starkes Selbstbewusstsein entwickelt und sucht den Kontakt nicht mehr als “unterwürfiger Bittsteller”, sondern – mal diplomatisch mal trotzend – in Augenhöhe. Auch möchte sie nicht mehr “nur” als Brückenkopf zwischen dem Orient und dem Westen, sondern vielmehr als ein neues zentrales Kraftfeld verstanden werden.

In der westlichen Welt galt die Türkei unter der islamisch-konservativen Partei AKP lange Zeit als Hoffnungsträger und Vorzeigemodell, wie eine Vereinbarkeit zwischen westlicher Moderne, Demokratie, Liberalität und dem Islam funktionieren könnte. Doch nach mehreren Jahren des Wirtschaftswachstums, der Demokratisierung, Entmilitarisierung und des Friedensprozesses mit den Kurden, findet nun eine markante Abkehr vom Demokratisierungs- und Liberalisierungspfad statt.

Die Türkei hat sich zu einem illiberalen, plebiszitär-autoritären Staat entwickelt mit einer starken Machtzentrierung auf den Staatspräsidenten. Das Parlament, die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Gerichte sind ausgehöhlt. Mit der massiven Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit, wie auch die Repressalien gegen Journalisten und Opposition wird die Demokratie auf ungleich geführte, machterhaltende Wahlen reduziert.  

Die daraus resultierenden Spannungen mit der EU und die wechselhafte Annäherung an Russland, China, Saudi-Arabien etc. erschweren die ohnehin schon schwierigen Beziehungen zwischen dem NATO-Partner Türkei und der EU. Durch den Syrienkonflikt und die dadurch entstandene Flüchtlingskrise ist Europa auf die Türkei angewiesen. Der Flüchtlingsdeal bleibt auf sehr wackeligen Beinen und wird immer wieder als Drohkarte eingesetzt. So hat sich die Türkei vom Hoffnungs- zu einem Problemfall, von einem Stabilisierungs- zu einem Destabilisierungsfaktor im Land wie auch in der Region entwickelt.

 

Gegenwärtig sind drei zentrale Entwicklungen auf unterschiedlicher Ebenen zu beobachten:

Politische Verfremdungen und Polarisierungen…

Auf der politischen Ebene findet ein zunehmender Verfremdungsprozess statt. Europa erlebt vor dem Hintergrund der Währungs- und Flüchtlingskrise wie auch des Brexits, eine massive De-Solidarisierung und rechtspopulistische Re-Nationalisierung. In der Türkei, die sich seit Jahrzehnten hingehalten fühlt, verliert die EU viel an ihrer einstigen Ausstrahlungskraft. Für die Regierung, welches das Land in eine illiberale Demokratie und plebiszitären Autoritarismus steuert, führt die EU mit ihren Ermahnungen immer mehr zu einem Ärgernis. Das Momentum nutzend wendet sie sich immer mehr von der proeuropäischen Staatsdoktrin ab und versucht neue Partnerschaften wie zum Beispiel im arabischem Raum, den Turkstaaten, Russland oder China aufzubauen ohne dass diese ernsthafte Alternativen zur EU darstellen können.

… bei starken wirtschaftlichen Verflechtungen und Abhängigkeiten

Die angespannten türkisch-europäischen Beziehungen finden vor dem Hintergrund stark verflochtener wirtschaftlicher Beziehungen, Abhängigkeiten und Interessen statt. Mehr als 60% der Direktinvestitionen wie auch 65% aller ausländischen Beteiligungen kommen aus der EU. Fast die Hälfte der türkischen Exporte gehen in die EU, während die Importe aus ihr bei knapp 40% liegen. Von daher ist die Türkei auf eine Ausweitung der bestehenden Zollunion mit der EU angewiesen und weniger auf die Isolation zu ihr. Die türkische Wirtschaft, der Tourismus wie auch die europäischen Unternehmen leiden unter der inneren politischen Instabilität, Rechtsunsicherheit und auch den angespannten Beziehungen. Die zunehmende Arbeitslosigkeit, das Gespenst der Inflation, wie auch die Gefahr eines Dominoeffektes bei Zahlungsunfähigkeit in einem kreditfinanzierten Konsum macht die Runde.

… in der MigrantInnen als politisches Kapital zwischen Entsende- und Aufnahmegesellschaft fungieren.

Auf der anderen Seite betreibt die Türkei in den letzten Jahren eine aktive Diasporapolitik. Die türkeistämmigen Mitbürger in Europa werden nicht mehr nur als „Melkkühe“ für Devisen gesehen, für die man sich ansonsten nicht sonderlich interessiert hatte. Über die Gewinnung der türkeistämmigen MigrantInnen wird versucht den Einfluss auf die europäischen Aufnahmegesellschaften zu erhöhen. Dieser kann sich je nach politischer Wetterlage integrativ oder desintegrativ auswirken. Die doppelte Paradoxie besteht darin, dass die Türkei sagt: „integriert euch, aber ihr gehört zu uns!“  während sie von den Aufnahmegesellschaften nicht selten das Signal bekommen: „integriert euch, aber ihr gehört nicht wirklich zu uns!“.

Aufgrund größerer Diasporagruppen kann es zudem dazu kommen, dass innen- und integrationspolitische Themen zu außenpolitischen Verwerfungen mit den Ursprungsländern führen können, und außenpolitische Spannungen mit den Ursprungsländern zu innen- und integrationspolitischen Problemen. Somit kommt es in migrationsgeprägten Gesellschaften zu einer höheren Wechselwirkung zwischen Innen- und Außenpolitik, welche die klassischen Ressortgrenzen verflüssigen.

 

Als gefragte Ansprechpartner für Politik, Wirtschaft und Medien stehen wir mit unserer Expertise für die politischen sowie sozio-kulturellen Themen zur Verfügung.

Projekte:
  • Inhaltsanalyse der türkischsprachigen Medien in Wien | Stadt Wien | seit 2017
  • Cross-Cultural-Trainings für transnationale Unternehmen in der Türkei | Berlitz Cultural Consulting (AT) | 2009 – 2011
  • Feld- und Machbarkeitsanalyse zur gesunden Wasserversorgung und nachhaltigen Entwicklung in der Region Ararat/Türkei in Kooperation mit AgriPro+, Entwicklungshilfegesellschaft SÜRKAL (TR) | 2004
  • Analysen zur Demokratieentwicklung, Menschenrechtslage und Minderheiten in der Türkei für diverse Institutionen
  • Diverse Beratungen und Vorträge im In- und Ausland